Ein Interview vom Bündnis “G20 entern” mit dem Lower Class Magazin zur Frage von Militanz und struktureller Gewalt
Über Sinn und Unsinn von Militanz. Interview mit dem Bündnis „G20 entern“
Der Frühling naht und die G-20-Gegner machen sich warm für den Gipfel Anfang Juli in Hamburg. Der April wurde als Aktionsmonat angekündigt. Was kann man erwarten?
Es wird wohl vielerorts vielfältige direkte Aktionen geben. Manche symbolischer Natur und andere als Sand im Getriebe der Staatsmaschinerie. Der Widerstand wird sich wohl nicht nur auf die Gipfeltage beschränken.
Auch die Propagandisten des Gipfels sind präsent und versuchen, den Protest zu kriminalisieren. Das Hamburger Abendblatt heizte die Hysterie an mit der Vorhersage, es würden 8000 militante Aktivisten anreisen. Natürlich dient das auch der Rechtfertigung von Maßnahmen wie dem Sammelknast mit 400 Plätzen – aber ist die Prognose nicht dennoch realistisch?
Dies lässt sich nicht klar beziffern, aber Ergebnis solcher militanten Mobilisierung wird natürlich sein, dass auch militante Aktivisten anreisen. Der Gipfel wird für die Linke in Europa ein zentrales Ereignis sein. Diese Zahlenspielereien sind jedoch unerheblich, zumal auch die Definitionen von Militanz sehr unterschiedlich sind. Fakt ist nur, dass es direkte Aktionen rund um den Gipfel geben wird.
Das Abendblatt schreibt, dass mit vielen Aktivisten aus den Ländern Südeuropas wie Griechenland, Italien und Spanien, aber auch aus Skandinavien und sogar den USA gerechnet wird. Was erwartet ihr?
Ein Ziel der Mobilisierung muss auch sein, dass Menschen aus den verarmten europäischen Peripheriestaaten anreisen. Nach der letzten Wirtschaftskrise hat das deutsche Kapital seine Krisenlasten vor allem auch auf diese Staaten abgewälzt und seine Vormachtstellung in Europa ausgebaut. Die Leidtragenden waren vor allem die Verarmten und Werktätigen. Es ist unsere Pflicht, uns mit „diesen Verlierern“ zu solidarisieren und was kann es Besseres geben, als gemeinsame Kämpfe auch auf Hamburgs Straßen zu entfachen.
Das Abendblatt zitiert einen Informanten aus der linken Szene mit der Formulierung, es werde zum Gipfel „knallen“. Natürlich ist auch das ein Stück Hysterie-Produktion, ist aber seit Wochen von vielen Seiten zu hören.
Für uns steht es nicht im Mittelpunkt, ob es knallt. Wir wollen unsere Wut auf dieses System auf die Straße tragen und so den Menschen zeigen, dass sie mit ihren vermeintlich individuellen Problemen nicht allein da stehen, sondern viele Menschen ähnliche Probleme haben. Die hängen mit dem kapitalistischen System zusammen und deshalb ist es richtig sich dagegen zu wehren. Um zu wissen, dass die Konfrontation dabei nicht ausbleiben wird, braucht es keine „Informanten“.
Was heißt das: Es wird knallen? Welches Szenario kann man sich vorstellen? So wie in Genua 2001 mit massiven Straßenschlachten und massenweisen Übergriffen der Polizei oder wie in Toronto 2010, wo die Krawalle nicht so massiv waren, aber wahllos mehr als 1100 Demonstranten festgesetzt wurden?
Es „knallt“ doch jeden Tag. Auch wenn die strukturelle Gewalt nicht wie ein Pflasterstein sichtbar ist, trifft sie viel mehr Menschen und ist brutaler. Wenn sie uns aus den Wohnungen werfen, uns in schlechte Jobs zwingen, unsere Umwelt und unser Essen verschmutzen, die Krankenhäuser in Supermärkte verwandeln oder uns in Knäste sperren, dann nennen sie das Alltag, für uns ist dieser kapitalistische Alltag jedoch Gewalt.
Klar ist, wenn sich diejenigen welche dieses System durchsetzen mitten in einer Großstadt treffen, wird dies jegliche Form des Protestes hervorrufen, dabei werden Manche versuchen, ihre Wut direkt zu adressieren. Das ist natürlich gerechtfertigt. Hamburg hat dabei für viele Menschen eine größere Anziehungskraft als Toronto und Deutschland spielt eine andere Rolle als Kanada oder Italien in der Welt, dies wird sich beim G-20-Gipfel auf der Straße widerspiegeln.
Sogar der Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) kritisierte, Hamburg sei für ein solches Treffen nicht geeignet, weil eine Absicherung kaum möglich sei.
Die Polizei versucht im Vorfeld aus Eigeninteresse ein Horrorszenario heraufzubeschwören, um bessere Ausrüstung und mehr Personal zu bekommen, dies erlebt man im Vorfeld von größeren Protesten immer. Die neoliberale Abschaffung des Sozialstaates muss einhergehen mit dem Ausbau der Macht der Repressionsorgane, um die Bevölkerung außer mit Zuckerbrot auch mit der Peitsche kontrollieren zu können. Hamburg als Austragungsort ist kein naives Geschenk an die Linke, sie wollen sich für kommende Auseinandersetzungen aufstellen und Stärke demonstrieren. Zudem will Olaf Scholz nach der geplatzten Olympia-Bewerbung wieder Boden gewinnen und sich staatsmännisch geben.
Auf dem Internetportal linksunten.indymedia.org waren Überlegungen zu lesen, dass die direkte Konfrontation mit dem polizeilichen Heer von mindestens 14.000 Mann wenig Sinn macht, sondern eher dezentrale Aktionen…
Wir lassen uns nicht vorschreiben, wo und wann wir zu protestieren haben. Demonstration in einem Wanderkessel von Polizisten ist sicher nicht unser Ziel. Protest muss sowohl zentral als auch dezentral organisiert werden, wenn wir wirklich an den Gipfeltagen die Maschinerie stören wollen. Wichtig ist, dass wir uns den öffentlichen Raum nehmen und eben mehr als nur eine mediale Randnotiz werden. Auch 14.000 Bullen können nicht überall sein und wir kennen unsere Stadt ohnehin besser als sie.
Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Thema Militanz in der Linken fast schon tabu ist. Da war man wohl in den 80ern weiter. Viele übernehmen heute die bürgerliche Argumentation, jede Gewalt sei von Übel, weil sie friedlichen Protest diskreditiere.
Die bürgerliche Gesellschaft ist voll von Gewalt, neben der strukturellen und kulturellen Gewalt gibt es auch die direkte durch das Gewaltmonopol, dies werden auch die „friedlichen“ Demonstranten zu spüren bekommen. Verdammt wird in der bürgerlichen Gesellschaft nur die Gewalt von unten, die gewaltsame Herrschaft von oben wird hingegen stets legitimiert. Unsere Kritik müssen wir vielfältig transportieren und dürfen uns dabei nicht spalten lassen. Es geht darum, endlich wieder aufzuzeigen, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist, sondern dass es Alternativen gibt und wir auch bereit sind dafür zu kämpfen. Dann ist Militanz auch vermittelbar.
In Paris gab es im Herbst massive Sozialproteste. Die jungen Demonstranten brachten ihren Widerstand auf die Formel „Casseurs de vitre contre casseurs de vie“, also: Zerstörer von Schaufenstern gegen Zerstörer des Lebens. Die französische Historikerin Sophie Wahnich erklärte, die Mehrheit der jungen Menschen habe begriffen, dass der Finanzkapitalismus und die dessen Herrschaft mit Anpassungsgesetzen begleitenden Regierungen ihnen nicht anders zu bieten haben als eine prekäre Zukunft. In Deutschland ist eine solch klare Rede von links kaum zu vernehmen. Warum?
Die Struktur der radikalen Linken in Deutschland ist ziemlich kleinbürgerlich geprägt, die Studierenden hoffen vielleicht heimlich doch noch irgendwo ihren Platz im System finden zu können. Außerdem war linksradikale Politik und Theoriediskussion der letzten Jahrzehnte eher Szene-Selbstbefriedigung als klassenbewusste Intervention. Vor allem die Diskussion .um subjektlose Kapitalismuskritik erschwert eine direkte revolutionäre Praxis unter Einbindung größerer Teile der Bevölkerung. Problematisch sind aber auch Sozialdemokratisierungstendenzen. Die Aktivisten glauben selber nicht mehr an eine Alternative zum Kapitalismus – und Stipendien, Organizing der Gewerkschaft und andere Pöstchen sind da für viele offenbar verlockender.
Wie geht es nach dem Gipfel weiter, was bedeutet er für den Widerstand gegen die Reaktion und was sagen Sie zum Vorwurf, Krawalle wären Wasser auf die Mühlen der Law-and-Order-Fetischisten?
Für uns sind die Gipfelproteste eine Gelegenheit, uns zu vernetzen und zu organisieren. Wichtig sind die Synergieeffekte der Proteste für die lokale Arbeit in Hamburg mitzunehmen und mit langfristigen Projekten unsere Seite im Klassenkampf aufzubauen. Das Wasser schütten die Law-and-Order-Fetischisten ohnehin selbst auf ihre Mühlen, egal wie stark oder schwach die revolutionäre Linke ist.
# Interview: Christian Stemmler